Woran es liegen könnte, dass dir manchmal alles zu viel wird

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+++ Mein neues Buch „Gestatten: Hochsensibel“ ist erschienen! +++

Hier spreche ich im einfach hochsensibel-Podcast mit Jean-Christoph von Oertzen über das Buch.

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Kaufhaus-Dauerbeschallung, Auto-Hupen, Menschen mit Ghettoblaster auf der Schulter. Du würdest dir am liebsten die Ohren zuhalten. Warum muss alles so laut und penetrant sein?

Das Gedränge auf dem Weihnachtsmarkt, Menschen rücken dir auf die Pelle und rempeln dich an. Es ist dir zu eng. Du fühlst dich unwohl.

Grell-blinkende Schriftzüge, mit Rabatt-Schildern zugepflasterte Schaufenster, ein Blitzlicht am Eingang. Du kneifst deine Augen zusammen.

Du sehnst dich nach deinen eigenen vier Wänden, gedimmtem Licht, ruhiger Musik oder Stille – und Alleinsein.


Manchmal wird mir alles zu viel: die Rabattschlacht, die Menschenmassen, der Lärm und das Gewusel. Mit jeder Minute, die ich in der Fußgängerzone zubringe, wächst meine Gereiztheit.

Im vergangenen Frühjahr entdeckte ich zufällig das Thema Hochsensibilität. Es war mein Aha-Erlebnis des Jahres. Seitdem verstehe ich, warum ich mich manchmal unwohl fühle oder mir alles zu viel wird, meine Gedanken nicht stillhalten – und ich ein Sorgenschwamm bin. Ich bin hochsensibel.

Schätzungsweise sind 15 bis 20 Prozent der Menschen (und Tiere!) hochsensibel.1,2 Trotzdem bekommt das Thema nicht annähernd die Aufmerksamkeit, die es verdient. Vermutlich wissen die meisten Hochsensiblen – wie ich bisher – davon nichts. Sie fühlen sich einfach nur anders und können andere, weniger sensible Menschen kaum verstehen. Nicht-Hochsensible nennen sie im Gegenzug schüchterne oder verklemmte “Sensibelchen”. Wie du später lesen wirst, gibt es objektive Unterschiede in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Sinnesreizen, die den Unterschied zwischen Hochsensiblen und Nicht-Hochsensiblen ausmachen. Je mehr wir darüber wissen, desto besser können wir uns gegenseitig verstehen.

Als ich mit Freunden über das Thema sprach, erkannte plötzlich jeder Beispiele für Hochsensible in seinem Umkreis. Es hat mich fasziniert, wie viele Facetten Hochsensibilität hat.

Woran du merkst, dass du hochsensibel bist

Es gibt viele Anzeichen für Hochsensibilität, die jedoch selten alle gleichzeitig auf eine Person zutreffen. In der folgenden Auflistung geht es mir daher eher um die Veranschaulichung von Hochsensibilität als um einen Test zum Abhaken. Selbst wenn du dich bei wenigen Punkten wiedererkennst, dafür aber extrem zustimmst, könntest du hochsensibel sein. (Wenn du trotzdem einen Test bevorzugst, findest du die Links am Ende des Beitrags.)

Die Punkte habe ich größtenteils aus “Zart besaitet” von Georg Parlow und “Hochsensibel – Was tun?” von Sylvia Harke zusammengetragen, die ich für detailliertere Informationen sehr empfehle. Die Punkte mischen sich mit Fragen aus Elaine Arons Hochsensibilitätstest sowie eigenen Erfahrungen und Beobachtungen. Die Aufzählung ist lang, aber sicher nicht vollständig.

Du hast eine ausgeprägte Sinneswahrnehmung

Wahrscheinlich ist nur einer deiner Sinne besonders stark ausgeprägt, vielleicht aber auch keiner. Deine Hochsensibilität könnte auch in anderen, noch folgenden Bereichen liegen.

  • Du bist geräuschempfindlich, z. B. bemerkst du das Vogelgezwitscher in der Fußgängerzone. Vielleicht gehörst du zu denjenigen, die ein absolutes Gehör haben und Töne eindeutig bestimmen können. Dafür kommst du schlechter mit Lärm (z. B. quietschende Zugbremsen) zurecht und kannst dich schwer an penetrante Geräusche (z. B. Laubbläser) gewöhnen.
  • Du siehst Dinge, die anderen entgehen. Du hast einen Blick für Ästhetik, siehst kleinste Abweichungen und Farbnuancen. Die Tippfehler in einer Seite Fließtext stechen dir sofort ins Auge. Du siehst als Erste/r, dass jemand seine Nägel lackiert hat oder müde aussieht. Vor lauter Konzentration auf Details, können dir aber auch offensichtliche Veränderungen (wie ein abrasierter Schnurrbart) entgehen.

Ich habe diesen Kunden, der mit bloßem Auge feinste Farbfehler bei Brillengestellen reklamiert. Da siehst du nichts. Der sagt: “Ich habe eine andere Farbe bestellt!” Der Hersteller meint dagegen, das sei innerhalb der Fertigungstoleranz.

  • Du bemerkst Gerüche, die andere nicht wahrnehmen oder erst später registrieren. Unangenehme Gerüche (z. B. von verbranntem Essen oder Zigarettenrauch) können dich aus dem Konzept bringen.
  • Du hast eine schmale Komfortzone, in der es dir weder zu warm, noch zu kalt ist. Deshalb machst du oft Fenster auf und zu und ziehst Kleidung an oder aus. Dich kratzen manche Stoffe und das Etikett am Kragen deines Shirts. Die Krümel im Bett spürst du sofort.
  • Du hast einen feinen Geschmackssinn. Du bemerkst als Erste/r das neue Gewürz im Plätzchenteig. Dir sind Gerichte eher zu salzig oder zu scharf als zu fad.

Viele dieser Empfindungen liegen unter der Wahrnehmungsschwelle von Nicht-Hochsensiblen, weshalb sie die für sie oft nicht nachvollziehbaren Empfindungen mit “Das bildest du dir nur ein!”, “Sei nicht so empfindlich!” oder “Sei doch mal normal!” kommentieren.

Du hast ein feines zwischenmenschliches Gespür

  • Du bist ein geschätzter Zuhörer und überdurchschnittlich empathisch, umso schwerer kannst du dich jedoch von anderen abgrenzen. Du saugst die Sorgen, Ängste und Gefühle anderer Menschen auf: Klagt dir jemand sein Leid, fühlst du dich auch schlecht. Ist jemand euphorisch, bist du es ebenso.
  • Du bist harmoniebedürftig, da Konflikte für dich ein Graus sind. Deshalb gibst du öfter nach als andere und versöhnst dich gern.
  • Du hast feine Antennen. Wenn du einen Raum mit Menschen betrittst, weißt du sofort, wer sich mit wem gestritten hat, wer gestresst ist, etwas zu verbergen hat oder jemanden angräbt.

Da gibt es unsere Antenne, diesen Arbeitskollegen, der immer genau weiß, ob das Team zufrieden ist oder der Haussegen schief hängt.

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Überstimulation bringt dich an deine Grenzen

  • Du fühlst dich leicht überwältigt durch starke Sinneseindrücke (z. B. Natur- oder Musikerlebnisse).
  • Menschenansammlungen stressen dich, da sehr viele Eindrücke auf dich einprasseln.
  • Hunger und Müdigkeit schlagen sich sehr negativ auf deine Stimmung nieder.
  • Das Gefühl, dass dir alles zu viel wird, kennst du nur zu gut. Du funktionierst dann nicht mehr, machst Fehler, wirst aggressiv und emotional. Du willst dich zurückziehen und/oder zeigst körperliche Symptome wie Herzklopfen, rote Flecken im Gesicht oder Schweißausbrüche. Dein Nacken verspannt sich.
  • Manchmal fühlst du dich einsam und unverstanden, ausgeliefert und hilflos.
  • Du brauchst viel Ruhe und Zeit für dich, um ausgeglichen zu sein.

Dein Denken ist vielschichtig

  • Du hast ein komplexes, reiches Innenleben und magst tiefgründige Gespräche und Literatur.
  • Du führst nicht nur Zwiegespräche mit dir selbst, du kannst Konferenzen mit deinen verschiedenen Persönlichkeitsanteilen abhalten (siehe Ministerkonferenz).
  • Du hast einen Faible für Spiritualität, Philosophie und Sinnsuche.
  • Du hast Eingebungen oder auch Ahnungen, die objektiv nicht erklärbar sind. Wenn jemand anruft, spürst du manchmal, wer es ist – ohne das Display zu sehen.

Da war dieser Junge, der meine Freundin aus dem Nichts fragte, ob sie schwanger sei. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie es selbst noch nicht. Sie war in der vierten Woche oder so. Zu Hause machte sie einen Test: positiv. Als sie den Jungen fragte, woher er es gewusst hatte, meinte er: “Deine Augen waren so anders.”

  • Du kannst dir Fantasiewelten erschaffen, denkst automatisch in größeren Zusammenhängen und hast sehr gute Analysefähigkeiten.
  • Du bist hochbegabt auf einem oder mehreren Gebieten. Da du dich für zahlreiche Themen interessierst (Scanner-Persönlichkeit), wirkst du manchmal sprunghaft und nicht fokussiert.
  • Metadenken ist dir nicht fremd: Du denkst oft über deine Gedanken nach, argumentierst und analysierst Gesagtes auf abstrakten Ebenen.
  • Dich zeichnet Idealismus und Weltschmerz aus. Du hast hohe moralische Ansprüche und fühlst dich schlecht, wenn du Leid oder Ungerechtigkeit beobachten musst.
  • Du neigst zu Perfektionismus. Entscheidungen triffst du eher ungern und langsam. Du bist gewissenhaft und fehlersensibel bei dir selbst und anderen.

Ich habe neulich einen winzigen Programmierfehler im Quellcode gefunden. Es war ein seitenlanger Code, aber plötzlich sah ich dieses eine Zeichen, das ein fehlerhaftes Verhalten verursachte.

Sonstige Merkmale von Hochsensiblen

  • Es macht dich nervös, wenn du unter Druck stehst und in kurzer Zeit viel leisten musst.
  • Du bist schreckhaft und meidest Gewaltszenen in Film und Fernsehen.
  • Du fühlst dich mit Tieren verbunden und leidest mit ihnen.
  • Du bist besonders lernfreudig, saugst neues Wissen (manchmal unbewusst) auf.
  • Obwohl du ein Gerät oder ein Programm noch nie verwendet hast, durchschaust du es intuitiv und schnell.
  • Du kannst dich gut konzentrieren und hast eine gute Feinmotorik (die durch Hunger stark beeinträchtigt werden kann).
  • Dein Körper ist ein Frühwarnsystem: Krankheitssymptome nimmst du besonders zeitig wahr.
  • Du bist besonders schmerzempfindlich.
  • Du bist anfällig für Stresskrankheiten wie Burnout.
  • Du reagierst besonders stark auf Reizstoffe wie Alkohol und Koffein.
  • Du brauchst eher mehr Schlaf als andere.

Hier erfährst du mehr über die Stärken von Hochsensiblen.

Was ist Hochsensibilität?

Hochsensibilität (auch: Hochsensitivität, Hypersensibilität oder Überempfindlichkeit) ist weder eingebildet, noch eine subjektive Befindlichkeit. Man geht davon aus, dass sie vererbt wird.2 Dieses Wissen haben wir u. a. Dr. Elaine N. Aron zu verdanken. Die US-amerikanische Psychotherapeutin verband die Erkenntnisse verschiedener Wissenschaftler mit eigener Forschung, führte Hunderte von Interviews und prägte den Begriff der hochsensiblen Person (im Original: highly sensitive person = HSP).2 Erst 2005 erschien die deutsche Übersetzung ihres Buches: “Sind Sie hochsensibel?”.

Das Phänomen ist folglich noch relativ neu – und Neues wird oft angezweifelt: Gibt es das Konzept wirklich oder bilden wir uns das alles nur ein? So richtig glauben wir nur, was wir auch messen können! Doch Hochsensibilität ist (zum Glück) messbar:

  • Iwan Pawlow (siehe Pawlowscher Hund) setzte Menschen einer intensiven Beschallung aus und beobachtete deren akustische Belastungsgrenze. Diese war erreicht, wenn die Versuchspersonen aus Selbstschutz dichtmachten und gequält zusammenbrachen. Ein Teil der Probanden (15 bis 20 Prozent) kam sehr schnell an diesen Punkt, d. h. bei einer noch geringen Lautstärke. Die restlichen Probanden stießen erst bei einer deutlich höheren Lautstärke an ihre Belastungsgrenze. Es gab keinen fließenden Übergang zwischen den Gruppen.1
  • Dr. Aron zeigte, dass bei HSPs bestimmte Gehirnareale stärker durchblutet werden, z. B. beim Anblick von Fotos mit glücklichen und unglücklichen Menschen. Im Vergleich zu nicht-hochsensiblen Menschen empfinden HSPs dadurch intensivere Gefühle – im Positiven wie auch im Negativen.3

Diese und weitere Experimente haben Hochsensibilität näher erschlossen, doch es gibt noch viele offene Fragen. Als gesichert gilt, dass HSPs über mehr Neurotransmitter verfügen, weshalb Stimuli innerhalb der Nervenbahnen mit geringeren Übertragungsverlusten weitergegeben werden. Es gelangen so mehr Reize ins Bewusstsein, die bei Nicht-Hochsensiblen gar nicht erst im Gehirn angekommen wären.1 Wir könnten auch sagen: HSPs nehmen mehr Reize auf, da ihr Filtersystem schwächer ist. 2

Diese höhere Sensibilität für Reize betrifft alle fünf Sinne, aber auch das zwischenmenschliche Empfinden. HSPs entgehen weniger Details bei der Körpersprache, sie registrieren das Nicht-Gesagte und lesen zwischen den Zeilen.

Mehr Reize bedeuten allerdings auch mehr Stimulation. Zu viele Reize führen früher oder später zur Überstimulation (Reizüberflutung). Dafür gibt es drei Varianten: ein Reiz ist zu intensiv (extrem lauter Knall), es gibt zu viele verschiedene Reize (vier Kinder, die gleichzeitig Fragen stellen) oder ein zunächst harmloser Reiz wird über längere Zeit wiederholt (Kraulen am Kopf wird irgendwann nervig, nach einigen Stunden zur Folter).1

Die Schwelle zur Überstimulation ist bei jedem unterschiedlich. Wenn wir aber erst einmal überstimuliert sind, ist es für jeden unangenehm – ob HSP oder Nicht-HSP. Auf Dauer kann uns dieser Zustand krankheitsanfälliger und depressiv machen. Die Kunst ist daher, seine Stärken und Schwächen im Hinterkopf zu behalten und gut für sich zu sorgen.

Was bedeutet es hochsensibel zu sein?

Hochsensibilität ist weder eine Krankheit, noch ein Nachteil fürs Leben. Es ist eine Veranlagung, die viele positive Eigenschaften birgt. Diese wiederum kommen in vielen Berufen besonders zum Tragen (z. B. künstlerische Berufe, beratende Tätigkeiten, Forschung).

Für mich und andere war es eine Erleichterung auf das Thema zu stoßen. Endlich eine Erklärung für alles. Sie macht aus mir keinen anderen (d. h. weniger sensiblen) Menschen. Doch es hilft mir, mir selbst gegenüber toleranter zu sein.

Für viele HSPs ist es eine Herausforderung, die positiven Seiten ihrerer Veranlagung zu schätzen und sich nicht von den negativen Seiten beeinträchtigen zu lassen. Der Grat ist schmal zwischen einem normalen Leben und dem Schutz vor Überstimulation.

Wichtig ist trotzdem, nicht jedes Verhalten mit seiner Hochsensibilität zu entschuldigen oder zu erwarten, dass andere Menschen immer Rücksicht nehmen. Selbstverantwortung ist sowohl für HSPs, als auch für Nicht-HSPs entscheidend. Die folgenden Fragen der Autoren von Zeitzuleben können dafür ein guter Anhaltspunkt sein:

Fragen für HochsensibleFragen für Nicht-Hochsensible
  • Wo liegen meine Grenzen? Wo sind meine Möglichkeiten?
  • Was tut mir gut? Was erschöpft mich?
  • Wie kann ich mit Nicht-HSPs, die mir wichtig sind, eine für beide bereichernde Beziehung gestalten?
  • Wie kann ich mich auch für Erschöpfendes und Anstrengendes wappnen, wenn es mir wichtig ist?
  • Wo liegen meine Grenzen? Wie viel Rücksicht kann ich nehmen?
  • Welche Bedürfnisse kann ich mit meinem HSP-Freund/-Verwandten/-Partner nicht erfüllen? Wie kann ich sie mit anderen Menschen erfüllen?
  • Was kann ich im Zusammensein mit meinem HSP-Freund/-Verwandten/-Partner vielleicht neu entdecken?

 

Ich hoffe mit diesem Artikel zu mehr Toleranz (und Weltfrieden!) beizutragen und wünsche mir, dass sich möglichst viele Hochsensible wiedererkennen und besser verstehen. Vielleicht siehst du jetzt auch jemanden in deinem Umfeld mit anderen Augen?

Weitere Artikel über Hochsensibilität im Blog findest du hier.

Quellen

  1. Zart besaitet” von Georg Parlow (etwas anspruchsvoller zu lesen, ein Standardwerk)
  2. Hochsensibel – Was tun?” von Sylvia Harke (angenehm zu lesen, viele Übungen)
  3. Sensitive? Emotioal? Empathetic? It could be in your genes” (englisch)

Tests für Hochsensibilität

Es gibt einige Online-Tests, die eine erste Orientierung bieten. Solche Tests sind allerdings nie so genau (siehe Suggestionsfalle), als dass du alles darauf setzen solltest.

Weiterführende Literatur und Ressourcen


Foto: Gestresster Mann in der Stadt von Shutterstock

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